“Es ist unheimlich wichtig, dass in der Stadt eine Atmosphäre entsteht: Wir wollen das so.”

Prof. Dr.-Ing. Kerstin Kuchta ist Direktorin des Instituts für Circular Resource Engineering and Management an der Technischen Universität Hamburg. Sie hat als Keynote Speakerin die re_use Linz Convention 2024 mit ihrer Expertise zum Thema Kreislaufwirtschaft bereichert. Kürzlich unterhielten wir uns mit ihr über die Entwicklung von neuen Standards im Bauwesen, die Wichtigkeit von guter Datenerhebung – und die besondere Rolle, die Städte bei der Klimawende spielen.
Kerstin Kuchta, Direktorin des Instituts für Circular Resource Engineering and Management an der Technischen Universität Hamburg, war Keynote Speakerin bei der re_use Linz Convention 2024.

Frau Professor Kuchta, Warum ist die Entwicklung einer Kreislaufwirtschaft im Bauwesen heute so wichtig? 

Die Bauindustrie ist verantwortlich für einen immensen Anteil am Ressourcenverbrauch – zwischen 35 und 40 %. In unseren Gesellschaften kommt die Hälfte der Abfälle aus dem Bau- und Abbruchbereich. Und gleichzeitig bauen wir sehr viel Neues. Wir brauchen immer mehr Wohnfläche, wir brauchen immer mehr Platz. Hier benötigen wir dringend eine Kreislaufwirtschaft. 

Heute wollen viele nicht mehr über Klimaschutz sprechen – da hat eine Art Müdigkeit eingesetzt. Aber die Umsetzung der Kreislaufwirtschaft ist gerade sehr populär und ich meine, wir sind uns alle einig: Ohne Kreisläufe keine Klimaneutralität und auch kein nachhaltiges Leben auf diesem Planeten.

Was für eine Rolle spielen Städte dabei?

Städte sind Zentren für Innovation und Veränderungen. Es gibt viel Kreativität, viel Wirtschaftspotenzial, aber auch viel Druck. In Städten haben wir nicht zehn Leute, die irgendwas brauchen, sondern immer gleich viele, hunderte oder sogar Tausende. Dadurch entsteht eine Dynamik, die durchaus produktiv sein kann. Gleichzeitig bieten Städte ideale Bedingungen für Kreislaufwirtschaft und Nachhaltigkeit. Wir wohnen eng zusammen und brauchen entsprechend nicht so viele Straßen oder so viele Außenwände. Wir können viel effizienter bauen, neue Methoden entwickeln, um Materialien zu sparen oder die, die schon vorhanden sind, weiter zu nutzen. 

Der Anspruch ist, dass wir jedes Gebäude bis zum Ende seiner funktionalen Lebensdauer bringen können. Das heißt, jedes Gebäude muss 150 Jahre genutzt werden. Aber – und ich verrate hiermit keine Geheimnisse – in den meisten Orten werden heute Gebäude abgerissen, die keine 30 Jahre alt sind.

Woran liegt das? 

Ich habe eben über die positive Seite der Dynamik in den Städten gesprochen. Aber diese Dynamik bringt auch die Leistungsfähigkeit von Gebäuden ganz schnell an die Grenze. Wenn ich mal für eine Million Leute ein Rathaus geplant habe und dann werden es nach ein paar Jahrzehnte zwei Millionen, dann ist das Rathaus natürlich zu klein.  

Auch die Ansprüche der Menschen verändern sich. Wir beanspruchen immer mehr Wohnfläche für uns selbst. Früher kam eine vierköpfige Familie mit 70 Quadratmeter aus. Heute sollten es schon 100 oder 150 sein. Dazu haben sich klimatische und andere Rahmenbedingungen verändert. Es gibt heute weniger Frost, dafür aber oft eine brutale Sonneneinstrahlung. Bürogebäude ohne Klimaanlage sind entsprechend nicht mehr denkbar. 

Was sind die wichtigsten Entwicklungen in diesem Bereich in den letzten Jahren? Was schafft Hoffnung?

Es ist das Bewusstsein für Transformation und Nachhaltigkeit gewachsen, sowohl bei privaten Bauherr:innen als auch bei städtischen und kommunalen Bauprojekten. Es wird nicht immer sofort dementsprechend gehandelt – aber es gibt Modelle, es gibt Ideen, wie man die Transformation vorantreiben kann, und das sickert langsam in die Gesellschaft ein.  

Eine Begrenzung von CO2 Emissionen im Bau pro Quadratmeter ist in Europa noch nicht so populär. Aber es gibt schon einige Staaten, die alle mit dem Bau verbundenen Emissionen begrenzen. Der Schattenpreis für CO2 wird derzeit vor allem im Süden Deutschlands diskutiert. Die Idee ist, einen solchen Preis parallel zu berechnen und sich dann zu fragen: Muss ich diesen CO2-Ausstoß von Anfang an ausgleichen? Gibt es Möglichkeiten, diesen „CO2-Rucksack“ bereits in der Planung zu verringern? 

Auch die Vereinfachungen von Baustandards gehen voran. Das betrifft Fragen wie: Wie viel Dämmung brauche ich, wie viel Schalldämmung? Wie dick müssen die Wände sein? Das wird aktuell alles neu überdacht. Da sind bereits viele kreative Köpfe am Werk, die sich jetzt darum kümmern. Wir müssen zwar noch schneller werden, aber ich sehe Licht am Ende des Tunnels. Und es ist nicht der entgegenkommende Zug! 

Was sind die größten Hindernisse?

Wir haben uns sehr an die alten Standards gewöhnt: Es soll alles immer standardisiert und maximal günstig gehen. Viele der Standards wurden entwickelt, ohne Klimaneutralität und Kreislaufwirtschaft zu berücksichtigen. 

Das würde ich nicht mal als Bürokratieabbau bezeichnen, es ist etwas anderes. Nehmen wir zum Beispiel Versicherungen. Wenn eine neue Lösung noch nicht zur Norm geworden ist, dann gibt es unheimliche Schwierigkeiten, die Bauherr:innen zu überzeugen, sie sollen mitmachen. Warum? Weil dabei das Risiko besteht, dass sie keine Versicherung mehr bekommen und zu hohe Risiken selbst tragen müssen. 

Hier brauchen wir mutiges Vorgehen und schnelles Anpassen der Normen. Aber das ist nichts, was man in einem Dekret macht, sondern das muss alles wissenschaftlich belegt sein. Zum Glück haben mindestens viele der großen Städte jetzt sogenannte Baukompetenzzentren in ihren Behörden aufgebaut, die sich darum kümmern.

Eine solche Umstellung kann auch teuer sein. Spielen Kosten auch eine große Rolle?

Ich glaube gar nicht, dass diese neuen Standards immer  teurer sind. Kurzfristig vielleicht schon – Umstellungen bedeuten immer Investitionen. Und das Risiko ist ein bisschen größer, weil man nicht mehr gemäß den alten Normen bauen kann. Aber langfristig wird es günstiger sein.  

Das Problem ist, dass die meisten Bauherr:innen nur auf die Errichtungskosten achten. Ein Gebäude nach Standards zu bauen ist einfacher und vielleicht heute billig, aber über die nächsten 20 Jahre Betrieb kann durchaus dreimal mehr dafür bezahlt werden. Hier braucht es auch eine neue Denkweise. Es muss jetzt in alle Köpfe rein, auch in die der Politiker:innen: Wir müssen jetzt anders bauen.

Viele Städte in Europa erleben gerade eine Wohnungskrise. Erschwert das die Kommunikation mit der Bevölkerung zum Thema Kreislaufwirtschaft im Bauwesen? 

Die Bevölkerung will im Moment vor allem, dass gebaut wird. Ich bin im Klimabeirat der Stadt Hamburg. Wir haben mal ein Papier herausgebracht, worin stand, dass Bauten viel zu viel CO2 emittieren. Wir wurden dann verbal sozusagen mit faulen Eiern beworfen: “Ihr wollt verhindern, dass wir bezahlbare Wohnungen kriegen? Ihr sitzt wahrscheinlich alle schon in den Villen!” Oftmals ist der Ausgleich der Interessen schwierig – aber nicht unmöglich. 

Aber die verschiedenen Faktoren müssen dringend auseinandergehalten werden. Die Standards, welche die Baupreise verteuert haben, liegen nicht an der Kreislaufwirtschaft, sondern an den Dämmungen, Sicherheit usw. Es ist natürlich eine Herausforderung, das auseinanderzuhalten. Aber auf der anderen Seite ist das auch eine Chance. Hamburg hat sich jetzt aufgemacht, neue Baustandards für den Wohnungsbau festzulegen. Und wenn in diesen Prozess direkt die Zirkularität eingebracht wird, kann es sogar günstiger werden. Das ist eine riesige Chance. 

Damit das alles klappt, braucht es aber auch Daten. Warum ist die Datenerhebung so ein wichtiges Thema?  

Wir wissen von den meisten Städten nicht, was im Urban Stock vorliegt – also welches Material schon in der Stadt vorhanden ist. Und wir wissen auch nicht, was an Materialien (und damit auch CO2) jedes Jahr zugebaut wird. Wenn diese Daten nachträglich erhoben werden und zum Beispiel über komplette 3D-Modelle die Materialität der Städte erfasst werden muss, ist das extrem aufwändig.  

Aber auch dies wird in Zukunft einfacher: Big Data und Digitalisierung bieten Möglichkeiten, die wir vor 20 Jahren einfach nicht hatten. Heute erfolgt jede Planung digital. Wichtig ist dann nur noch, dass die Daten zentral erfasst werden und dass sie ausreichen, um die Mengen an CO2 oder Materialien bestimmen zu können. Und das ist eine dringende Voraussetzung.  

Wenn ein Gebäude abgebrochen werden soll, brauche ich in der Regel eine Abbruchgenehmigung. Wenn alle Daten über die Materialität des Gebäudes vorliegen, können diese Materialien mit der Abbruchgenehmigung sofort über eine Plattform zugänglich gemacht werden. Und potenzielle Nutzer:innen erfahren: “Da wird in Hamburg ein Gebäude abgerissen, 100 Tonnen Stahl und 3.000 Tonnen Beton werden da frei. Wer braucht das?” 

Was können Städte wie Linz konkret in den nächsten Jahren unternehmen? 

Ich finde die Idee einer CO2-Grenze für die Bauwirtschaft sehr sinnvoll – ein maximaler CO2-Ausstoß pro Quadratmeter, oder ein Anspruch auf Klimaneutralität über 20 Jahre. Das heißt, dass ein Gebäude parallel Energie produzieren muss, um die verursachten CO2-Emissionen während der Errichtungsphase auszugleichen. Wenn wir wissen, wie viel CO2 die Bauaktivität verursacht, kann auch gleich die Frage gestellt werden: Wie kann ich dies ausgleichen? 

Auf dem re_use Linz Kongress spürte ich, dass hier eine städtische Community ist, die gemeinsam an Kreislaufwirtschaft und Klimaneutralität arbeiten will. Und das ist das Wichtigste. Die Stadtgemeinschaft muss beschließen: “Wir wollen das so” und kann dann gemeinsam daran arbeiten, es umzusetzen. 

In Städten, in denen die Nachbarschaft gepflegt wird und ein Miteinander herrscht, existieren große Chancen. Und wenn kleine und große Projekte überall in einer Stadt sichtbar sind, dann motiviert das auch Einzelne, beim nächsten Bauvorhaben oder beim nächsten Umzug, darüber nachzudenken: “Wie soll mein Wohnen zum Klimaschutz beitragen oder was für Materialien nehme ich?” 

Entsprechend hat mich das re_use Linz Projekt und das Vorgehen in Linz wirklich beeindruckt. Es ist natürlich immer noch ein langer Weg zum Ziel. Aber trotzdem hatte ich das Gefühl, dass eine breite Stadtgemeinschaft sich der Transformation zur Klimaneutralität und zur Kreislaufwirtschaft annimmt und dass Linz sich auf den Weg gemacht hat. Und wenn dieses Gemeinschaftsgefühl und der Stolz auf das Erreichte sich erst mal entwickelt, bin ich zuversichtlich, dass der Prozess auch über schwierige Zeiten trägt. Ohne das wird es nicht gehen.

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